Die Geschichte von den Wasserkäfern und der Libelle

Am Boden eines kleinen, ruhigen Teiches lebte eine Gemeinschaft von Wasserkäfern. Es war eine zufriedene Gemeinschaft, die dort im Halbdunkel lebte und damit beschäftigt war, über den Schlamm am Boden des Teiches hin und her zu laufen und nach etwas Nahrung zu suchen. 

Immer wieder bemerkten die Wasserkäfer jedoch, dass der eine oder der andere von ihnen anscheinend nach einiger Zeit das Interesse daran verlor, bei ihnen zu bleiben. Er klammerte sich dann an den Stängel einer Teichrose und kroch langsam daran empor, bis er verschwunden war. Dann wurde er nie mehr gesehen.

Eines Tages, als dies wieder geschah, sagten die Wasserkäfer zueinander: "Da klettert wieder einer unserer Freunde den Stängel der Teichrose empor. Wohin mag er wohl gehen?" 

Aber obwohl sie ganz genau zuschauten, entschwand auch dieses Mal der Freund schließlich aus ihren Augen. Die Zurückgebliebenen warteten noch eine lange Zeit, aber er kam nicht zurück.

"Ist das nicht eigentümlich?" sagte der erste Wasserkäfer. "War er denn hier bei uns nicht glücklich?" fragte der zweite. "Wo er jetzt wohl ist?" wunderte sich der dritte. Keiner wußte eine Antwort. Sie standen vor einem Rätsel.

Schließlich berief der Älteste der Wasserkäfer eine Versammlung ein. "Ich habe eine Idee," sagte er. "Der nächste von uns, der den Teichrosenstängel hochklettert, muß versprechen, daß er zurückkommt und uns erzählt, wohin er gegangen ist, und warum."

"Wir versprechen es," sagten alle feierlich. 

Nicht lange danach, an einem Frühlingstag, bemerkte genau derselbe Wasserkäfer, der diesen Vorschlag gemacht hatte, daß er dabei war, den Teichrosenstängel emporzuklettern. Höher und immer höher kletterte er. Und dann, noch bevor er wußte, was ihm geschah, durchbrach er auf einmal die Wasseroberfläche und fiel auf ein großes, grünes Teichrosenblatt. 

Als der Wasserkäfer wieder zu sich kam, schaute er sich verwundert um. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Alles war ganz anders, auch sein Körper schien auf merkwürdige Weise verändert. Als er ihn neugierig zu betrachten begann, fiel sein Blick auf vier glitzernde Flügel und einen langen Hinterleib, die nun anscheinen zu ihm gehörten. 

Noch während er sich über seine ungewohnte Form wunderte, spürte er ein Drängen, die Flügel zu bewegen. Er gab dem Drängen nach, bewegte seine Flügel, und plötzlich, ohne zu wissen wie, befand er sich in der Luft. 

Der Wasserkäfer war eine Libelle geworden. 

Auf und ab, in engen und großen Kreisen, bewegte sich die neugeborene Libelle durch die Luft. Sie fühlte sich wunderbar in diesem so ganz andersartigen Element als bisher. 

Nach einiger Zeit ließ sie sich auf einem Blatt zum Ausruhen nieder. In diesem Moment sah die Libelle hinunter auf das Wasser. Und da waren ihre alten Freunde, die anderen Wasserkäfer, die hin und her liefen am Boden des Teiches, so wie sie selbst noch vor einiger Zeit. 

Jetzt erinnerte sich die Libelle an das Versprechen: "Der nächste von uns, der den Teichrosenstängel emporklettert, verspricht, daß er zurückkommt und erzählt, wohin er gegangen ist, und warum." 

Ohne lange zu überlegen, stürzte die Libelle hinab, um ihren alten Freunden zu berichten. Aber sie prallte von der Oberfläche des Wassers ab. Jetzt, wo sie eine Libelle geworden war, konnte sie nicht mehr in das Wasser eintauchen. 

"Ich kann nicht zurück," sagte sie traurig. "Zwar habe ich es versucht, aber ich kann mein Versprechen nicht einhalten. Und selbst wenn ich zurückkehren könnte, kein einziger von meinen Freunden, den Wasserkäfern, würde mich in meinem neuen Körper erkennen." 

Und nach einigem Nachsinnen wurde ihr klar: "Ich muß wohl warten, bis sie ebenfalls zu Libellen geworden sind. Dann wissen sie von selbst, was mir widerfahren ist und wohin ich gegangen bin." Und damit flog die Libelle glücklich empor, in ihre wunderbare neue Welt aus Luft und Licht.